Ein Tag im Knast ohne Gitter

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Resozialisierung

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Jugendstrafvollzug in freier Form: Das ist der Ansatz, der mit dem Seehaus praktisch umgesetzt wird. Im Seehaus Leonberg sind durchschnittlich fünf bis sieben straffällig gewordene Jugendliche untergebracht. Einer von ihnen ist Tom. Wir haben ihn einen Tag lang begleitet.

 

Er ist geliebt und gefürchtet zugleich, der Dienstag im Seehaus Leonberg. Es ist noch dunkel, als sich Tom* schläfrig aus seiner Bettdecke schält. Die Uhr zeigt 5.35 Uhr – Zeit für den Frühsport. Gemeinsam mit den anderen Jugendlichen verbringt Tom seine Haftzeit hier im Seehaus, einem Jugendstrafvollzug in freier Form. Sie alle treffen sich heute draußen zum Warmmachen, dann geht es mit der Stirnlampe auf die Laufstrecke durch den Leonberger Forst. Für Tom ist das kein Problem. „Ich mache sehr gerne Sport“, gibt er mit zufriedener Miene zum Besten. Andere kehren gerade mit deutlich erschöpftem Gesichtsausdruck von der frühmorgendlichen Runde zurück. Jetzt heißt es erst einmal durchschnaufen. Vor dem Frühstück ist noch ein wenig Zeit, in Ruhe zu lesen oder den eigenen Gedanken nachzuhängen. Dabei duftet es in der Wohngemeinschaft bereits herrlich nach Kaffee und Tee. Das Frühstück nehmen die straffällig gewordenen Jugendlichen zusammen mit ihren Hauseltern und deren Kindern ein. Mit ihnen leben die Jugendlichen jeweils in einer der Wohngemeinschaften im Seehaus zusammen. Das trägt dazu bei, dass sie –  meistens zum ersten Mal – ein intaktes Familienleben kennenlernen.

Nach dem Frühstück heißt es Aufräumen und Putzen, bevor um 7.45 Uhr eine weitere Pause auf dem Tagesprogramm steht. Ein Großteil nutzt sie zu einer von drei Gelegenheiten am Tag zum Rauchen. „Wir ermuntern die Jugendlichen jedoch, das Rauchen möglichst aufzugeben“, sagt Irmela Abrell, sozialpädagogische Leiterin in der Einrichtung. Nach dem täglichen Treffen aller Mitarbeiter um 8 Uhr geht es eine Viertelstunde später in die Seehaus-Betriebe oder auf die Baustelle. Tom hat sich für eine Ausbildung in der Schreinerei entschieden. „Mir macht es Spaß, mit Holz zu arbeiten“, sagt er, setzt seine Schutzbrille auf und hobelt weiter an der Schrankwand, sodass die Späne fliegen. Im Seehaus können die Jugendlichen darüber hinaus noch in den Bereichen Metallbau, Bautechnik sowie Garten- und Landschaftsbau berufliche Fertigkeiten erlernen. Ziel ist es, dass sie im Seehaus das erste Lehrjahr in Theorie und Praxis absolvieren und anschließend das zweite Lehrjahr in einer Lehrstelle außerhalb antreten.

In der Gesprächsgruppe "Opfer und Täter im Gespräch" werden die Jugendlichen herausgefordert.

Am Dienstag treffen sich die Jugendlichen, die nicht außerhalb im Einsatz sind, pünktlich um 13 Uhr zur Brotzeit in der Zimmerei. Die Arbeit macht hungrig. Tom packt seine mitgebrachten Stullen aus und verdrückt sie genüsslich. Viele Worte verlieren die Jugendlichen dabei nicht. Die meisten sehnen die zweite Zigarettenpause herbei. Ein paar schnelle Züge, dann geht es wieder an die Arbeit. Als weit nach 17 Uhr die letzten Werkzeuge aufgeräumt sind und die Betriebe in einen ordentlichen Zustand versetzt sind, machen sich die Jugendlichen auf den „Heimweg“. Feierabend im klassischen Sinn haben sie jedoch noch nicht. Vielmehr steht für alle ein wichtiger Termin auf dem Programm: die Runde der hilfreichen Hinweise. Die Jugendlichen analysieren dabei gemeinsam den Tag, weisen sich untereinander auf Fehlverhalten hin, sprechen Lob für gute Aktionen aus und ermutigen sich gegenseitig. Das Prinzip, das sich hinter dieser Runde verbirgt, ist die „Positive Gruppenkultur“. „Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung. Sie lernen, für andere da zu sein und zu helfen“, erläutert Irmela Abrell.

Für Tom und die übrigen Jugendlichen ist es nicht immer leicht, Kritik einzustecken. „Manchmal fällt mir das wirklich schwer. Aber später am Arbeitsplatz muss ich es auch aushalten, wenn mir mein Chef sagt, was nicht gut gelaufen ist“, zeigt sich Tom einsichtig. Das leckere Abendessen im (Ersatz-)Familienkreis leistet an diesem Dienstag wie so oft seinen Beitrag dazu, dass der letzte Rest Frust bei dem ein oder anderen vergeht. Danach verbringen die Jugendlichen in der Regel auch die restlichen Stunden des Tages zusammen in der Wohngemeinschaft. Oder sie gehen nochmal gemeinsam raus zum Sport. „Wir möchten, dass die Jugendlichen lernen, sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen. Die gemeinsamen Aktivitäten bieten zudem die Chance, dass sie ihre besonderen Talente erkennen und entfalten können“, so Irmela Abrell. Der sehr durchstrukturierte Tagesablauf ist nach den Worten der sozialpädagogischen Leiterin ganz bewusst so angelegt. „Auf diese Weise werden die Jugendlichen konsequent gefordert. Sie müssen Leistung bringen. Gleichzeitig werden sie in vielen Bereichen gefördert und erzielen Erfolgserlebnisse. Das alles hilft ihnen, sich später mit ihren Begabungen in die Gesellschaft einzubringen“, erklärt sie.

Täter und Opfer begegnen sich

An diesem Dienstagabend steht für Tom und drei weitere Jugendliche eine besondere Begegnung außer der Reihe an: Sie treffen drei Opfer von Straftaten. Es ist der dritte von

sechs Abenden im Rahmen des vom Seehaus initiierten Programms „Opfer und Täter im Gespräch (OTG)“. Was bewegt einen Menschen wie Tom, eine Straftat zu begehen? Was fühlen Opfer? Wie kann man die Folgen einer Straftat verarbeiten? Sind Vergebung und Wiedergutmachung möglich? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die sieben OTG-Teilnehmer im Seehaus. Beim OTG besteht zwischen den Beteiligten kein unmittelbarer Bezug hinsichtlich der Tat. Dennoch gehen die Jugendlichen an diesem Abend nachdenklich zurück in die Wohngemeinschaft. Sie spüren, wie sehr eine Straftat ein Opfer aufwühlt.

Tom räumt freimütig ein, dass die Seehaus-Zeit herausfordernd ist. Aber er gewinnt dem Ganzen viel Positives ab. „Das Wichtigste ist für mich, dass ich im Seehaus die Chance bekomme, mein Leben zu ändern.“

Draußen ist es inzwischen längst wieder dunkel. Ein letzter Blick für heute auf die Uhr: 22.15 Uhr. Tom knipst das Licht aus.

*Namen von der Redaktion geändert.

 


 

Das Leben nach Toms Gefängniszeit

Tom hat das Seehaus inzwischen verlassen. Nach seiner Zeit im Strafvollzug in freier Form in Leonberg setzte er zunächst seine dort begonnene Ausbildung fort. Diese brach er nach wenigen Monaten ab und nahm stattdessen eine andere Arbeitsstelle auf. Mit dem Gesetz ist er nicht wieder in Konflikt geraten. Ein Mitarbeiter des Seehauses steht noch in Kontakt mit Tom.

Seehaus e.V.

Das Konzept „Seehaus – Jugendstrafvollzug in freier Form“ wird vom Seehaus e.V. an mehreren Standorten betrieben, darunter Leonberg in Baden-Württemberg und Störmthal in Sachsen. 14- bis 23-jährige Gefangene (im Seehaus „Jugendliche“ genannt) können sich dafür aus dem Gefängnis heraus bewerben. Nach der Zustimmung durch die Anstaltsleitung verbringen sie ihre gesamte restliche Haftzeit im Seehaus. Ein zentraler Baustein im Seehaus-Konzept ist die Unterbringung der Jugendlichen in familienähnlichen Wohngemeinschaften mit einem Hauselternpaar sowie der Alltag mit einer festen Tagesstruktur, der die Jugendlichen dazu befähigen soll, Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. So wird eine Basis geschaffen, damit sie nach der Haft wieder einen guten Platz in der Gesellschaft finden. www.seehaus-ev.de

Männer am Wendepunkt: Einst Täter, heute Hoffnungsträger.

Tobias Tagebuch: Besuch in Palermo.

Einmal Opfer, immer Opfer?