Einmal Opfer, immer Opfer?

Veröffentlicht: ·

Resozialisierung

· 4 Min. Lesezeit

Tobias Merckle trifft Opfer des Kolumbien-Konflikts, die mit Unterstützung von Hoffnungsträger und Prison Fellowship Kolumbien (PFC) mutige Schritte in ein Leben ohne Angst und Verbitterung gehen. Und ehemalige Täter, die neue Wege beschreiten.

 

Um 5 Uhr morgens machen wir uns auf den Weg zu den Palafitos-Dörfern „Nueva Venecia”, „Buenavista” und „Trojas de Cataca”. Wir gelangen nur mit Booten dorthin, denn die Dörfer sind direkt am Wasser gebaut. Schnell wird klar: Es verirren sich nicht viele Menschen hierher, geschweige denn staatliche Hilfeleistungen.

Stelzen heben die kleinen, bunten Holzhäuser aus dem Wasser. Bewohnerinnen und Bewohner gelangen mit Booten von Haus zu Haus. Als Unwissender könnte man meinen: „Was für eine Idylle, was für ein tolles Leben!”

Doch die Idylle täuscht. Die Dorfbewohnenden haben Schlimmes erlebt, sie haben aus Verzweiflung ihre Häuser verlassen und sind in umliegende Städte, zum Beispiel Palermo, geflohen. Manche sind inzwischen zurückgekehrt, andere sind für immer gegangen.

Ein Leben in Angst und Armut.

Die Gründe dafür sind nicht nur der ausbleibende Fischfang in den Fischer-Dörfern (seitdem der industrielle Fischfang hier Einzug gehalten hat), das verseuchte Wasser (durch die großen Unternehmen, die sich angesiedelt haben), das fehlende Abwassersystem oder der fehlende Strom. Es ist vor allem die Angst, erneut Opfer von Gewalt zu werden, die die Menschen vertreibt.

Anhaltende Gewalt.

Viele Dorfbewohnende sind Opfer von Massakern durch die kolumbianischen Paramilitärs geworden. Allein im November 2020 wurden 39 Dorfbewohner in Palafitos umgebracht. Warum? Weil sie angeblich mit der FARC* zusammengearbeitet haben.


 

FAST JEDE FAMILIE IST BETROFFEN. JULIA* ERZÄHLT VON IHREN ERLEBNISSEN.

Mit 16 Jahren wird Julia Opfer eines sexuellen Übergriffs. Sie nimmt sich fest vor, sich zu rächen und ihren Täter umzubringen. Mit Wut und Verzweiflung im Bauch und fest entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, kommt sie ihm näher: Sie geht eine Beziehung mit dem Mann ein.

Julia wartet nur auf den perfekten Zeitpunkt, doch ihr angeblicher Partner wird misstrauisch und flieht. Später wird er tot aufgefunden – die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass Julias Vater den Mord in Auftrag gegeben hat. Das Leid seiner Tochter sollte nicht ungestraft bleiben.

Selbstjustiz steht an der Tagesordnung.

Es ist ein fataler Kreislauf, der bei vielen Menschen in Kolumbien den Alltag prägt: Wer Gewalt erfährt, wird gewalttätig. Wer mit Kriminalität aufwächst, wird kriminell. Auch Julia ist von diesem Setting geprägt: Ihr Vater Juan mischt im tödlichen Spiel der Bandenkriminalität mit – seine eigene Schwester wie auch sein Schwager wurden entführt und umgebracht.

Juan schließt sich früh einer gewaltsamen Widerstandsgruppierung an, aus Druck und Sorge um die eigene Familie. Als Informant schützt er geliebte Menschen und trägt gleichzeitig dazu bei, dass Nachbarn und Dorfbewohner sterben: Massaker brechen über die Palafitos-Dörfer ein und haben brutale Ermordungen zur Folge. Schlussendlich wird Julias Vater selbst Opfer der Banden-Konflikte und wird getötet.

Nach den Vorfällen isoliert sich Julia – zu grausam sind die Taten, die sie von ihren Nachbarn trennt.

Hoffnungsträger fördert Frieden und Versöhnung.

Erst durch die Teilnahme am Programm „Dörfer der Versöhnung”, das Hoffnungsträger gemeinsam mit dem Partner PFC in Kolumbien durchführt, findet sie einen neuen Weg, das Geschehene aufzuarbeiten: Sie begegnet Opfern des Konflikts, Aussprachen mit den Dorfbewohnern finden statt – und schließlich geschieht Versöhnung. Der Weg ist frei in eine gemeinsame – bessere – Zukunft, die sich alle wünschen.

Neue Wege gehen, damit Menschen Frieden finden.

Nach vielen weiteren Geschichten wie diesen treten wir die Rückreise mit dem Boot an. Ich bin nachdenklich gestimmt und geschockt von der Gewalt und Verletzung, die Menschen voneinander trennt. Und gleichzeitig bin ich voll starker Hoffnung, weil ich neu hören und erleben durfte, wie Begegnung und Versöhnung neue Wege ebnet. Morgen besuchen wir das Dorf Palermo. Weiterlesen

 


 

TAG 2: TOBIAS MERCKLES KOLUMBIEN-TAGEBUCH

Tobias Merckle (links), Stifter Hoffnungsträger, mit Mitarbeitenden von Prison Fellowship Colombia in Kolumbien.

*FARC und Paramilitär:

In Kolumbien herrscht seit über fünfzig Jahren mit Unterbrechungen ein bewaffneter Bürgerkrieg (auch der letzte Friedensvertrag von Juni 2016 ist inzwischen von den Beteiligten gebrochen worden). Beteiligt sind die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, zu Deutsch: ‚Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee‘), eine linksgerichtete sozialrevolutionäre Guerillabewegung, die einen bewaffneten Kampf gegen den kolumbianischen Staat, seine Vertreter, staatliche Streitkräfte und die rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen und Drogenkartelle führt.

Das könnte dich auch interessieren:

Kolumbien-Konflikt und Versöhnungsarbeit: Worum geht es? Mehr erfahren

Patenschaften in Kolumbien. Mehr erfahren

Stifter Tobias Merckle trifft Familie von Gefangenen.  Mehr erfahren

 

GRATIS BUCH BESTELLEN: CHRISTOPH ZEHENDNER ÜBER HOFFNUNGSTRÄGER

„Jeder verdient eine zweite Chance” heißt der Titel des Buches von Christoph Zehendner, in dem über einige Facetten der Arbeit von Seehaus e.V., der Hoffnungsträger Stiftung und der kolumbianischen Partnerorganisation Prison Fellowship Kolumbien berichtet wird. Es ist voll mit Geschichten von Versöhnung, Würde und neuer Hoffnung. Der Autor porträtiert beeindruckende Persönlichkeiten und stellt ergreifende Lebensschicksale vor.

JETZT KOSTENFREI BESTELLEN

Männer am Wendepunkt: Einst Täter, heute Hoffnungsträger.

Tobias Tagebuch: Besuch in Palermo.

Es beginnt mit einer Brücke.