Kambodscha: Mein Besuch bei einer Familie auf dem Land

Veröffentlicht: ·

Patenprogramm

· 10 Min. Lesezeit

Wie lebt eine Familie in Kambodscha auf dem Land? Und wie beeinflusst die Tatsache, dass der Vater im Gefängnis ist, ihr Leben? Kollegin Marietta Steinhöfel hat sie besucht und zwei Tage und eine Nacht in ihrem Alltag verbracht.

Es ist schon ein krasser Kontrast. Ich packe das weiße Kissen und eine dünne Decke des komfortablen Hotels ein, das ich die letzten Tage noch mein Zuhause in Kambodscha nennen durfte und in dem wir Raum für die zahlreichen Meetings rund um das Hoffnungsträger Patenprogramm hatten. Ausbreiten werde ich beides das nächste Mal wahrscheinlich auf dem Boden einer Holzhütte. Noch einmal warm geduscht und ausgiebig gefrühstückt — wer weiß, wann ich das nächste Mal dazu komme. Hat die Familie überhaupt fließend Wasser? Und wie viel zu Essen gibt es? Ich weiß es nicht. Mein Gedankengang wird unterbrochen, als mich Sirivuth, Leiter des Patenprogramms Kambodscha, und Sozialarbeiterin Cynthia abholen. Ich setze mich in das angenehm klimatisierte Auto. Wir schieben uns mit vielen Autos, Mopeds und Tuk-Tuks durch den Verkehr auf den vollen Straßen von Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh, durchqueren mehrere Provinzen, bis wir nach etwa viereinhalb Stunden die Provinz Pursat erreichen.

Das Holzhaus (mittig) ist der einzige Raum für die komplette Familie.

Es kein Zufall, dass uns zuerst Großmutter Samnang in Empfang nimmt. Die ältere Frau lacht mit weit geöffnetem Mund, sodass ihre schwarzen Zähne zum Vorschein kommen. Ihr Körper ist schmal, aber muskulös – von der Arbeit gestählt. Samnang gibt hier gewissermaßen den Ton an. Sie war da und kümmerte sich um die Kinder, als die Mutter nach Thailand ging. Sie war da, als das “Drama” passierte, diese Wortwahl benutzt Sirivuth, Mitarbeiter unserer Partnerorganisation vor Ort, der die Familie schon länger begleitet, so als ob es ein Tabuthema sei. Und das bleibt es auch für die kommenden zwei Tage. Was wirklich vorgefallen ist und warum der Vater im Gefängnis sitzt, erfahre ich nur von ihm. Die Familie direkt danach zu fragen, wage ich nicht. Ich spüre, dass die Wunden zu tief sitzen.

DER VORFALL

Es trug sich im Haus der Eheleute zu, das unweit von dem Ort steht, an dem wir uns jetzt befinden. Der Familienvater ermordete die eigene Mutter. Für die dreifache Mutter und Ehefrau Vanna brach eine Welt zusammen, als sich diese Tragödie wie ein Schatten über ihre Familie legte und ihr Mann zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie selbst stand plötzlich allein da, wusste nicht, wie sie von ihrem geringen Erwerb als Baugehilfin ihre Familie versorgen sollte, geschweige denn die Kinder zur Schule schicken könnte. Also entschied sie sich, wie viele Kambodschaner, zum Arbeiten nach Thailand zu gehen, wo bessere Löhne gezahlt wurden. “Zu diesem Zeitpunkt stellten wir das Patenprogrammen in der Region Pursat vor und kamen auch mit dieser Familie ins Gespräch. Gemeinsam wollten wir herausfinden, wie wir unterstützend tätig werden können“, erklärt Sirivuth. Auch wenn Vanna inzwischen aus Thailand zurückgekehrt ist, ist sie nie mehr in das ehemalige Familienhaus zurückgekehrt. Mutter und Kinder wohnen nun auf dem Grundstück der Großmutter. Sirivuth berichtet:

„Vanna ist durch den Vorfall fast verrückt geworden, sie hat ständig Albträume und ist oft sehr nervös und hibbelig.”

Gemeinsam mit Großmutter und Kindern begehen wir das Gelände, auf dem die Familie jetzt wohnt. Seit der Teilnahme am Patenprogramm vor vier Jahren hat sich einiges getan. Samnang legt das Wellblech vor dem Entenstall weg und schiebt den Vorhang zur Seite. “Es sind sieben”, sagt sie in ihrer Muttersprache Khmer. Ein kurzer Blick zu Sirivuth meinerseits, der ins Englische übersetzt, so dass auch ich folgen kann. Ich nicke zustimmend und erhalte ein Lächeln der alten kambodschanischen Dame. Die Sau im Stall gegenüber grunzt laut. “Siehst du das geschwollene Bein?”, fragt Sirivuth. Sie hat eine Entzündung am Gelenk, übersetzt er. “Wir werden der Familie Geld für die Medizin dalassen.” Außerdem ist die Sau trächtig, durch den Verkauf der Ferkel sowie der Enteneier kann sich die Familie etwas hinzuverdienen. Wie viele Ferkel es wohl werden? “Man sagt ja, das berechnet sich an der Anzahl der Zitzen. Demnach werden es zehn”, sagt Samnang und lacht ihr herzhaftes Lachen.

Phirun ist der älteste Sohn der Familie. Als sein Vater ins Gefängnis kam, war er etwa zehn Jahre alt.

Phirun lacht kaum. Mit einem Fingerzeig gibt die Großmutter ihrem ältesten Enkel zu verstehen, er solle das Wellblech herüberreichen. Meinem Blick ausweichend, tut er, was von ihm verlangt wird. Wir setzen unsere Begehung fort. Mit einigen Schritten Abstand geht er hinter uns her, während seine jüngere Schwester Kunthea neben uns herläuft und sogar ab und zu ein Lächeln hervorbringt. Er ist schüchtern, denke ich mir. Das ist ja auch alles sehr aufregend, der ganze fremde Besuch im eigenen Zuhause.

Wir gehen weiter zum Reisfeld, das bislang vor allem dem Eigenbedarf diente. In der Vergangenheit reichte es aber auch dafür kaum. Das Feld zu klein, die Samen und der Dünger zu wenig. Durch die Programm-Unterstützung steht nun mehr Saatgut zur Verfügung. Aber es müsste mehr sein, sagt Samnang, und das Feld müsste noch größer sein, damit es wirklich Gewinn abwirft. Bislang ist das Reisfeld nur gepachtet und nicht im Besitz der Familie. Das ist ein großes Problem und eine finanzielle Belastung. Auch die Düngermittel schlagen zu Buche.

Die Arbeit auf Reisfeld wird noch von Hand gemacht. – © Hoffnungsträger

ZU VIEL ZU TUN

Bereits zum zweiten Mal huscht eine kleine Frau an mir vorbei. Sie trägt Töpfe von A nach B, sie holt einen Eimer, kramt in der Küche. “Ist sie die Mutter?”, frage ich. “Ja”, gibt Sirivuth zu verstehen, ehe die Dame mit Sichel und Baumstamm schon wieder hinter der Hütte verschwunden ist.

Ich beschließe der flinken Frau zu folgen und mache mich nützlich. Ob die Kinder ihr helfen, möchte ich wissen. “Ja, sie helfen mir oft”, sagt Vana, “aber nicht so zackig wie du”. Sie lacht mit einem breiten Grinsen, das mir sehr bekannt vorkommt. Es ist schön zu sehen, dass die Familie bei allen Herausforderung so viel Freude ausstrahlt. In routinierten Bewegungen schneidet Vana den Palmenstamm in Scheiben, die wie große Zwiebelringe aussehen. Mit dem Riesenmörser und Schrot, der als Abfallprodukt bei der Verarbeitung des Reises entsteht, zerstampfe ich alles zu einem Brei. Den bekommt später das Schwein.

“Mein ältester Sohn hilft zum Beispiel auf dem Reisfeld mit”, sagt Vana. Er könne schon den Mähdrescher fahren. Ich bin erstaunt. “Wer hat dir das denn beigebracht, Phirun?”, will ich wissen. Ein beschämter Blick auf den Boden, dann erzählt er:

“Es gab niemanden, der mir das gezeigt hat. Ich habe es mir selbst beigebracht.”

Mr. Vityer ist Direktor der Schule in Pursat.

EIN NEUER MORGEN

Um sechs Uhr morgens beginnt ein neuer Tag. Phirun, Pich und Kunthea sitzen schon in ihren Schuluniformen bereit und warten auf ihr Frühstück: Reis vom Vortag, den Vana im Topf erwärmt. Seit kurzem haben die Kinder ein Fahrrad, mit dem sie zur Schule fahren. Zum Glück haben sie es nicht weit bis zur Schule, wie andere Kinder, die schon morgens lange und teils gefährliche Wege auf den dicht befahrenen Straßen auf sich nehmen müssen.

In der Schule sieht man den Geschwistern dank Uniformen auf den ersten Blick nicht an, dass bei ihnen etwas anders ist. Man sieht ihnen nicht an, dass sie keinen Vater haben, der in ihrem Leben präsent ist, genauso wenig, dass das ausreichende Schulmaterial und die Uniformen nicht von der Familie selbst bezahlt werden können.

Direktor Vityer kennt die Kinder — vor und nach der Tat des Vaters. Er sagt, besonders das Verhalten des ältesten Sohnes habe sich verändert, er mache sich Sorgen um ihn. Phirun sei von Natur aus ein eher schüchterner Junge, aber seit dem Vorfall habe er sich stark zurückgezogen.

“Der Junge will nicht mit den anderen Kindern spielen und ist lieber nur für sich, er wirkt ängstlich.”

Sirivuth nimmt an den Gesprächen in der Schule Teil und übersetzt. Als Sozialarbeiter und Leiter des Patenprogramms Kambodscha kennt er die unterschiedlichsten Geschichten von Kindern von Gefangenen und sieht die Parallele zwischen den Schicksalen: Die soziale Armut, die psychischen Folgen der Elterntat, in manchen Fällen sogar die darauf folgende Stigmatisierung und Ausgrenzung für das Kind. “Es ist wichtig, dass wir die Familien mit anderen Betroffenen und beispielsweise lokalen Gemeinden in Kontakt bringen”, sagt er. Mir wird klar, dass es etwas mehr als das braucht. In Fällen, wo ein Trauma vorliegt (bei Kindern oder anderen Familienmitgliedern), ist die Zusammenarbeit mit psychologischen Experten gefordert.

Direktor Vityer bestätigt, dass er eine bewusste Ausgrenzung der drei Kinder in seiner Schule noch nicht erlebt hat. Fest steht jedoch, dass es in Kambodscha als böses Omen gilt, wenn jemand ein Gefängnis betreten hat, erklärt Sirivuth. Und dieser Fluch haftet auch unserer Familie an, selbst wenn der letzte Besuch beim Vater bereits zwei Monate her ist.

Die Schulglocke schellt, das Signal für die Pause. Die Kinder stürmen aus ihren Klassenräumen. Dem neuen Gebäude aus Beton und dem alten aus Holz. Phirun bleibt alleine auf der Veranda des Holzgebäudes stehen, bis wir winken und ihn zu uns rufen.

Die Mädchen packen augenblicklich die Springseile raus und hüpfen los. “Das ist auch mein Lieblingsspiel”, berichtet Kunthea. Spielen kann sie vor allem hier in der Pause. Denn Zuhause wird erstmal im Haushalt, mit den Tieren und auf dem Feld geholfen. Sie habe auch Hausaufgaben aufbekommen. “Bekommst du Hilfe dabei?”, frage ich. Kunthea schüttelt den Kopf. “Nee, die sind einfach.” Wenn sie groß ist, will Kunthea Krankenschwester werden.

WAS DIE ZUKUNFT BRINGT

Langsam wird es Zeit für uns zu gehen. Bei einem abschließenden Gespräch soll es enden, wie unser Aufenthalt angefangen hat. Auf die Frage, was die Zukunft für die Kinder bringen möge, wendet Mutter Vanna den Blick nach unten, während Großmutter Samnang das Wort ergreift. “Unser Mädchen ist fleißig in der Schule, aber die Jungs brauchen ein bisschen Antrieb. Sie möchten lieber arbeiten als zur Schule zu gehen.” Ihr Wunsch sei es doch, dass die Kinder einen höheren Bildungsabschluss erreichen.

Jetzt sind die Probleme noch vergleichsweise gering, aber um die Zukunft der Kinder macht sich Samnang Sorgen. Was passiert, wenn die Kinder größer sind? Mit welchen Leuten in der Community werden sie sich umgeben, werden sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten? Während die alte Dame diese Worte ausspricht, sitzen hinter uns zwei Männer, die albern lachen, schon eine ganze Weile. Sie sind offensichtlich alkoholisiert. Sirivuth sagte bereits, dass das ein massives Problem von Menschen hier ist, die keinen Job finden. Auf Alkohol folgen andere Drogen, manchmal eine kriminelle Laufbahn.

Nach der Schule geht’s als erstes zu den Tieren: Enten füttern und die Sau versorgen.

Wir steigen in den Van und verabschieden uns. Am Ende bleibt für mich die Hoffnung, dass die Kinder ihre Schule abschließen werden und die Familie vom Reisanbau und der Viehhaltung einen guten Eigenerwerb erwirtschaften kann. Durch die Unterstützung und viel fremdes und eigenes Engagement hat sich die Situation der Familie bereits spürbar verbessert, aber sie lebt noch immer am Existenzminimum.

Bevor wir uns verabschieden, reden wir über die Zukunft der Kinder.

Neben essenziellen Dingen, wie einer eigenen Toilette und eigenes Einkommen, braucht es vor allem gute Vorbilder und Wegbegleiter, die die Kinder positiv prägen und ihnen aufzeigen, dass sie mehr erreichen können. So braucht es trotz aller Verbesserung langfristigere Bildung, Essen in besserer Qualität, mehr Perspektiven. Hoffnungsträger setzt sich weiter dafür ein, dass es Schritt für Schritt besser wird.

*Die Namen der aufgeführten Personen wurden aus Gründen des Identitätsschutzes abgeändert.

Chicken Farming schafft Perspektiven für Familien in Kambodscha

DIE KLEINE AUGUSTINE: EIN WAISENKIND BLEIBT NICHT LÄNGER ALLEIN.

„Ihr seid nicht vergessen“: Kehrtwende für junge Mutter Valerie.